berlinerleben 1/20

KOLUMNE Lea Streisand HAT EINE HÖRBUCHKOLUMNE auf radioeins und schreibt für verschiedene Tageszeitungen. Ihr aktueller Roman heißt „Hufeland, Ecke Bötzow“ (Ullstein). www.leastreisand.de dealer in der U8 bei der Arbeit beob- achten. Pauls WG befand sich in einem Altbau im zweiten Stock und ging über eine ganze Etage. Das klingt jetzt viel dekadenter, als es war. Es war nämlich scheißunpraktisch, weil die WG ein- fach aus zwei Wohnungen bestand, die nicht miteinander verbunden waren, und immer wenn man was suchte, war es garantiert gerade in der anderen Wohnung. Pauls Zimmer hatte drei Außen- wände, war aber trotzdem ein Berliner Zimmer mit Fenster in der Ecke, das auf einen Friedhof hinausführte. Auf der anderen Straßenseite war ebenfalls ein Friedhof und hinter dem Friedhof begann das Tempelhofer Feld. „Nicht erschrecken“, murmelte Paul beim Einschlafen in unserer ers- ten gemeinsamen Nacht, „wir sind hier mitten in der Einflugschneise für Tem- pelhof.“ „Pff“, lachte ich schläfrig, „ich woh- ne in Pankow in der Einflugschneise ohnungen sind etwas Merkwürdiges. Wenn es im Winter früh dunkel ist, dann wird das offensichtlich. So viele Leben von so vielen Menschen, gestapelt übereinander. Wie Setz- kästen mit Beleuchtung schillern die Häuser auf der anderen Seite des Hin- terhofes. Die Frau ganz oben hat eine neue Freundin, die alte Dame rechts staubt schon wieder ihre Bücher ab. Sie ist so ordentlich, die putzt auch ihre Fenster alle zwei Monate. Ich bin schon froh, wenn ich das zweimal im Jahr schaffe. Und ich hab ein Kleinkind mit Wurstfingerchen, die es jedes Mal an die Fensterscheibe klatscht, wenn draußen eine Taube vorbeifliegt. Oder ein Flugzeug. Und wir wohnen in Pan- kow. Hier fliegen ständig Flugzeuge. Als ich mit Paul zusammenkam, dem Vater des Kindes, damals vor un- fassbaren zwölf Jahren, da wohnte er noch in Neukölln, Hermannstraße, an dem Ende, das vermutlich noch nicht mal heute für cool gehalten werden kann. Höhe U-Bahnhof Leinestraße. Da konnte man die lokalen Drogen- für Tegel, da wird Tempelhof ja wohl kaum schlimmer sein!“ Am nächsten Morgen lag ich ver- pennt im Bett. Paul war in der anderen Wohnung, um Kaffee zu kochen. Da plötzlich donnerte ein ohrenbetäuben- der Krach über mich hinweg. Das Haus vibrierte, das Bett wackelte und ich zitterte wie Espenlaub. Ich saß nicht aufrecht im Bett, ich stand. Nackt und zitternd vor Schreck. „Was zur Hölle ist hier los!?“, schrie ich. Ich dachte, mir würde der Himmel auf den Kopf fallen. Da flog, direkt vor dem Fenster, vor dem das Bett stand, auf dem ich stand und schrie, draußen ein Flugzeug vor- bei. Ein echtes Flugzeug! Im zweiten Obergeschoss eines Altbaus. Ich konn- te den Piloten sehen! Er mich zum Glück nicht. Sonst wäre es vermutlich sein letzter Anblick gewesen. In dem Moment kam Paul zurück ins Zimmer. Er hielt zwei dampfende Kaffeetassen in den Händen und sah sehr verliebt aus. „Da war ein Flugzeug!“, schrie ich. „Ebengerade! Direkt vor demFenster!“ Einflugschneise Lea Streisand sagt die Wahrheit berlinerleben  9 ILLUSTRATION: Silke Werzinger LEBEN IN BERLIN

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