Berlin
Provinz vs. Berlin
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tip Campus
April 2013
Tausende Studienanfänger strömen jedes Se-
mester nach Berlin und das bestimmt nicht
nur weil die Unis hier ein so tolles Angebot
haben. Was wollen die eigentlich alle hier?
Wolfgang Kaschuba: Wenn wir an der Hum-
boldt-Universität unsere Studienanfänger fra-
gen, warum sie Berlin gewählt haben, dann
sagen die: „Hier kann man alles machen.“ Und
sie meinen damit nicht die Uni oder ihr Stu-
dium. Erstens steht die Stadt Berlin für ein
buntes Angebot: Stadtleben, Nachtleben, Kul-
turleben, Wissenschaft. Zweitens ist eine
Großstadt immer auch ein anonymer Raum.
Jeder kann sich frei entfalten, Regeln und Nor-
men sind hier sehr viel weniger ausgeprägt als
in einer Kleinstadt.
So richtig ins Großstadtleben ein- und unter-
zutauchen hat seinen Reiz. Aber in einem
solchen anonymen Raum kann sich auch
schnell ein Gefühl von Einsamkeit einstellen.
Das ist richtig, die enorme Vielfalt und das
Untertauchen in der Masse bergen auch Ge-
fahren. Einerseits kann man in einer Stadt wie
Berlin sehr schnell unglaublich viele Kontak-
te knüpfen, andererseits droht die Gefahr der
Isolation. Zwischen diesen beiden Polen be-
wegt sich jede Großstadt.
Zwischen unendlichen Möglichkeiten und
unendlicher Einsamkeit: Erlebt jeder, der
neu nach Berlin kommt, die Stadt auf diese
Weise?
Nicht unbedingt: Wie man die Stadt erlebt,
hängt meist damit zusammen, wo man her-
kommt. Wer in einer Face-to-Face-Welt, also
in einer kleinen, übersichtlichen Stadt, aufge-
wachsen ist, muss sich an die Anonymität erst
gewöhnen. „In Berlin existiere ich gar nicht,
weil mich niemand auf der Straße anschaut“,
so empfinden das zunächst viele, wenn sie
hierherkommen.
Und da ist ja auch wirklich was dran: Die
Menschen in der U-Bahn oder auf der Straße
grüßen sich nicht. Hier gibt’s weder ein „Hal-
lo, wie geht’s?“ an der Kasse im Supermarkt
noch ein „Wie war der Urlaub?“ beim Bäcker.
Ganz anders als auf dem Dorf oder in einer
Kleinstadt. Woran liegt das?
Der Stadtsoziologe Georg Simmel hat um 1900
die werdende Großstadt Berlin, die damals
explodiert ist, hautnah miterlebt. Eine Situa-
tion, die übrigens in dieser Zeit in London
oder Chicago nicht anders war. Simmel sagt,
der Großstädter müsse sich in gewisser Weise
einen Panzer anlegen, mit dem er durch die
Stadt läuft, damit nicht alle Eindrücke und
Kontakte unmittelbar wirken. Und zwar aus
einem ganz einfachen Grund: Das Individuum
wäre sonst in einer Großstadt wie Berlin über-
fordert. Andernfalls müsste man ja ständig zu
jedem „Guten Tag“ und „Hallo“ sagen! Diese
Blasiertheit und Arroganz des Großstädters,
von der Georg Simmel spricht, ist also eine
gewisse Form des Selbstschutzes.
Wenn man aus einer kleineren Stadt kommt,
muss man sich aber nicht nur an die Anony-
mität gewöhnen. Auch mit den unendlich
vielen Angeboten und Möglichkeiten, von
Sportvereinen über Cafés, Theater und Kinos
bis hin zu Clubs und Konzertveranstaltun-
gen, muss man erst einmal klarkommen.
Das stimmt. In Berlin kann man wirklich so
gut wie alles machen. Aber wenn man tat-
sächlich alles macht, dann macht man viel-
leicht nichts richtig oder vernachlässigt zu-
mindest sein Studium. Es ist also Multitasking
gefragt. Wo soziale Kontrollen von außen
fehlen, muss sich das Individuum selbst sehr
gut organisieren, um mit der Stadt als Ablen-
kungslandschaft umgehen zu können oder
auch mit den Entfernungen in der Stadt. In
Berlin hat man zu jeder Tages- und Nachtzeit
Hunderte Angebote. Wer damit ein Problem
hat, der ist natürlich in Würzburg oder Müns-
ter besser aufgehoben.
Würzburg und Münster sind klassische Uni-
versitätsstädte. Berlin hat gleich mehrere
Unis – spielen die in der Wahrnehmung der
Stadt überhaupt eine Rolle?
Berlin ist sicher weniger geprägt von der Ein-
richtung der Universität. In Städten wie Müns-
ter oder Würzburg führen fast alle Wege in die
Uni: Ein Viertel bis die Hälfte der Einwohner
hat irgendwas mit der Hochschule zu tun und
alle wissen auch, wo die Uni steht. Berlin ist
von der Fläche sehr groß, die Universitäten
»In Berlin hat man zu
jeder Tages- und ­Nachtzeit
Hunderte Angebote«
Unendliche Vielfalt, aber auch unendliche Einsamkeit: Warum Berlin eine Herausforderung ist und wie man
sich in dem anonymen Raum der Großstadt zurechtfindet, erklärt der
Metropolenforscher Wolfgang Kaschuba
Foto: Oliver Wolff
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