Provinz vs. Berlin
Berlin
tip Campus
17
April 2013
sind winzige Inseln darin. Und Berlin hat meh-
rere Universitäten, deren Fakultäten noch da-
zu über die ganze Stadt verteilt sind – das ist
mitunter etwas unübersichtlich. Nicht die
Universität als Institution ist also prägend für
die Stadt, wohl aber die soziale Formation.
Sie meinen das Studentenleben und den stu-
dentischen Habitus?
Genau. Über 150000 Berliner Studierende sind
natürlich ein unglaublich großer urbaner Fak-
tor. Die sind stilmäßig flexibel und vor allem
kreativ. Sie ziehen oft um, wechseln den Kiez
oft mehrmals. Dieses Wandern zwischen Miet-
und Szenenniveaus ist für die Stadt sehr prä-
gend, ein großer Teil der Gentrifizierungsthe-
matik hat hier seinen Ursprung. Aber auch das
Rastlose oder Hedonistische, das Berlin aus-
zeichnet, entspringt dem studentischen Milieu:
Das studentische Leben ist sehr lebendig in
Bezug auf sein Freizeit- und Alltagsverhalten.
Kreativität, Rastlosigkeit und eine breite
kulturelle Landschaft: Gilt das nur für Ber-
lin als Stadt oder auch für seine Universi-
täten?
In typischen Universitätslandstädten ist ein
Großteil der Stadt in die Hochschule inte­
griert. In Berlin verhält es sich umgekehrt: Es
ist nicht das akademische Milieu, das die Stadt
prägt, sondern die Vielfalt der Stadt wirkt in
die Universitäten hinein. In Berlin gibt es ein
breites zivilgesellschaftliches Engagement von
Töpferkursen über Lesekreise bis hin zu De-
monstrationen. Vieles davon findet unabhän-
gig von der Universität statt, auch wenn oft
Studierende involviert sind. Doch von Fall zu
Fall nehmen die einzelnen Institute der Uni-
versitäten Kooperationen auf. Die Stadt prägt
das akademische Leben.
Und wie schafft man es in einer großen Stadt
wie Berlin, alles unter einen Hut zu bekom-
men? Die Urbanität der Großstadt zu genie-
ßen, ohne das Studium komplett zu vernach-
lässigen?
Die erste Regel, speziell für die Uni, heißt
wohl: Fragen stellen. Selbst wenn niemand
anders die Frage stellt, dann bedeutet das im
Zweifel nicht: Alle anderen wissen schon
Bescheid, sondern alle anderen wissen ge-
nauso wenig wie ich! An jedem Institut gibt
es Professoren, Tutoren oder auch ältere Stu-
dierende, die gerne und bereitwillig beim
Zurechtfinden helfen. Und das nicht nur im
universitären Zusammenhang, sondern auch
bei allem anderen. Die zweite Regel, speziell
für eine Großstadt wie Berlin, lautet: Finde
organisierte Formen des Studierens und Zu-
sammenlebens! Gerade weil man sich eben
nicht ständig zufällig über den Weg läuft,
sind feste Arbeitsgruppen, verbindliche Ver-
abredungen oder der Austausch von Telefon-
nummern unverzichtbar. Drittens finde ich
sehr wichtig, sich ein Netz von Bezügen und
Orten aufzubauen.
Man braucht also ein paar Telefonnummern,
dazu feste Termine in zum Beispiel einer
Lerngruppe und dann Orte wie etwa die WG-
Küche, also Dinge, die helfen sich im Groß-
stadtdschungel zu orientieren.
Genau. So eine Mental Map in der Großstadt
ist elementar: Man muss sich an bestimmten
Plätzen selbst verorten, wo man eine feste
Bleibe und einen Kiez hat. Dazu kommen ein
paar Fixpunkte wie Stammkneipen oder Ca-
fés, wo man nach und nach einen festen so-
zialen Bezugsrahmen knüpft. Darauf aufbau-
end kann man dann auch offen sein für Ex-
perimente und das Kennenlernen von Neu-
em, ohne sich gleich heimatlos und verloren
zu fühlen. Zu dieser Offenheit würde ich
dann aber auch explizit raten: Ein Studium
in Berlin ist immer ein Selbstexperiment. Wer
sich darauf einlässt, sollte eine 360-Grad-
Perspektive bewahren und offen sein für das,
was er hier an Vielfalt und Chancen vorfin-
det. So kann man sich in viele, verschiedens-
te Richtungen ausprobieren und sich selbst
besser kennenlernen. Und das ist ja ein heh-
res Ziel des Studentenlebens: herauszufin-
den, wer man oder frau selbst eigentlich ist.
1
Interview: Michael Metzger
Literaturtipps:
2
2
Georg Simmel:
Die Großstädte und das Geistesleben
2
2
Alfred Döblin:
Berlin Alexanderplatz
Zur Person
Professor Doktor Wolfgang ­Kaschuba (Jahr-
gang 1950) ist in der kleinen Stadt Göppingen
bei Stuttgart aufgewachsen. Zum Studium ist
er 1968 nach Tübingen gezogen, dort hat er
Politische Wissenschaft und Anglistik studiert
sowie Empirische Kulturwissenschaft, Polito-
logie und Philosophie. In Tübingen lebte und
arbeitete er bis 1992, dann ging er nach Berlin.
Seit 1994 ist er der geschäftsführende Direktor
des Instituts für Europäische Ethnologie der
Humboldt-Universität zu Berlin. Stadt- und
Metropolenforschung gehört neben Alltag und
Kultur der europäischen Moderne zu seinen
Forschungsschwerpunkten.
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