Berlin
Abschlussarbeit
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tip Campus
April 2013
Die zum ersten Band der Reihe „Westwärts.
Studien zur Popkultur“ gekürte Dissertation
der Berliner Kulturwissenschaftlerin Nadja
Geer fährt mit alten, aber schweren Geschüt-
zen gegen die deutsche Popintelligenzija auf.
Der in den 80er-Jahren eingeführte Ton sei
arrogant und besserwisserisch, der politische
Anspruch mehr als fraglich. Geer stößt sich
dabei, und das unterscheidet sie von der po-
litischen Kritik an der Poplinken der 90er-
Jahre, weniger am Inhalt als an der Form.
Die antihierarchische Stoßrichtung der
Popkultur werde durch eine Redeweise ent-
demokratisiert, die ihre Referenzen nicht ex-
pliziert, sondern das komplizenhafte „Being
in the know“ voraussetzt und so unablässig
Distinktion produziert. Die Texte von Diedrich
Diederichsen, Rainald Goetz, Max Goldt,
Christian Kracht und Thomas Meinecke seien
der Eisenbeschlag für die „harte Tür des Pop“,
wie Letzterer das Exklusionsverfahren der
Auskenner einmal ganz enthusiastisch ge-
nannt hat. Das coole Wissen etablierte sich in
einem Modus der ästhetischen Verfeinerung,
der Kurzschlüsse zwischen High and Low,
zwischen Kant und The Slits produzierte und
so eine alternative Elitenselbstvergewisserung
vorantrieb. Diese Methode nennt Geer Sophis-
tication – Vorsprung durch Diskurstechnik.
Menschen, die noch in Plattenläden gehen,
kennen bis heute den abschätzigen Blick der
Feinkostverkäufer, wenn man zum falschen
Produkt greift.
Geer geht aber in ihrer Analyse über den
selbst schnell spießigen, weil latent intellek-
tuellenfeindlichen Vorwurf des Snobismus
hinaus. Sie macht im avancierten Popdenken
einen narzisstischen Performance-Charakter
aus, dem es nicht um Kommunikation, son-
dern um Selbstdarstellung geht. Die von Geer
schon als Teenagerin beobachteten „Jungs, die
vor dem Spiegel ihre Tanzposen einüben“ lie-
fern für den Pop-Dandy das Posing-Modell
zum „Denkstil“. Der Fan-Zuspruch ist den ge-
nannten fünf Pop-Autoren allerdings bis heu-
te nicht abzusprechen – was dann doch ver-
muten lässt, das hier sehr wohl etwas kom-
muniziert wird, das mehr ist als Distinktions-
huberei und sich längst auch in ganz normaler
Literatur als selbstverständliche kulturelle
Referenz ablagert. Clemens J. Setz etwa
schreibt in seinem gefeierten Roman „Indigo“,
der eben nicht als Popliteratur firmiert, ganz
ohne Avantgardepenetranz von Batman und
Elfriede Jelinek, Arvo Pärth und dem extre-
mistischen Noise-Album „Great White Death“,
einem „Meisterwerk“ der Industrial-Band
Whitehouse. Es ist kein Zufall, dass Geer sich
in ihren Stilanalysen nicht auf die Gegenwart,
sondern auf die heiße Phase der im Postpunk
sozialisierten Popintellektuellen und Poplite-
raten in den wilden 80er-Jahren konzentriert.
Der einst mit „Neger“-Texten provozierende
Thomas Meinecke zelebriert heute mustergül-
tigen Genderdekonstruktivismus. Rainald
Goetz rebellierte in den 90er-Jahren selbst
gegen den leerlaufenden Avantgardepopges-
tus, tauchte in Massenraves auf Ibiza unter
und recherchiert heute als Romancier penibel
über Wirtschaft, Politik und Massenmedien.
Und Diedrich Diederichsen ist nicht mehr
selbst ernannter Pop-Professor an der Bar, son­
dern fremdernannter Professor an der Wiener
Kunstakademie. Daneben schreibt er eine Ko-
lumne über entlegene Antipopmusik in der
„Spex“. Die hat heute bestens in den Theater-
häusern etablierte (und trotzdem als sophis-
ticated geltende) Popgrößen wie Nick Cave
oder Tocotronic am Cover.
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Thomas Edlinger
Die ganz besondere Abschlussarbeit:
Die harte Tür der Theorie
Vorsprung durch Diskurstechnik: Die Berliner Kulturwissenschaftlerin Nadja Geer untersucht in ihrer Disser-
tation
Sophistication: Zwischen Denkstil und Pose
die Formen und Strategien der deutschen Popkritik
Foto: privat, Oliver Schultz-Berndt (oben)
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Nadja Geer: „Sophistication.
Zwischen Denkstil und Pose“
Vandenhoeck & Ruprecht, 267 S., 43,90 €
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Seminar „Popmusikjournalismus“
(Institut für Musikwissenschaften, HU);
Di 12–14 Uhr
Immer schon sophisticated:
„Tocotronic“, 1999
Pop-Diskursanalyse
aus kritischer Distanz:
Nadja Geer
1...,30,31,32,33,34,35,36,37,38,39 41,42,43,44,45,46,47,48