Berlin
Retro
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tip Campus
April 2013
renden) Lana Del Rey in Szene gesetzte Filmdivenverschnitt aus Hol-
lywood, Babylon und Barbie erzählt von der Möglichkeit, die eigene
Welt mit Zeichen auszustaffieren. Retro erlaubt uns aber nicht nur,
genießerische Umgangsformen mit der jüngeren Vergangenheit auszu-
probieren, sondern erfordert dabei immer auch eine Ausblendung der
dabei eben nicht in den Kram passenden Elemente. In Retro steckt
deshalb nicht nur die Rückbesinnung auf etwas Vermisstes, sondern
auch ein eskapistisches Moment.
Die „Zeiten des Aufruhrs“ des Romanciers Richard Yates sind wie
„Mad Men“ ebenfalls im prosperierenden Amerika um 1960 angesie-
delt. Der Glamour eines Künstlerlebens und der Geruch von Paris sind
in diesem Ehedrama über verlorene Illusionen in der Vorstadt aber nur
Lockstoffe aus der weiten Welt. Küchenmixer, Ehekrisen und todlang-
weilige Vertretergespräche sind die Realität. Auch die Eames-Plastik-
stühle erinnern nicht an die spießigen Fünfzigerjahre, sondern an eine
coole Moderne, in der noch Utopien entwickelt wurden. Heute hört
man vielleicht dazu Kraftwerk und wünscht sich mit retrofuturisti-
schem Beharren, bei der erstmaligen Aufführung der gesammelten
acht Alben der Düsseldorfer Roboterdarsteller im New Yorker MoMa
im April 2012 dabei gewesen zu sein.
Retro ist also in jedem Fall die geschönte Beschwörung einer Ver-
gangenheit. Diese kann wertkonservativ-nostalgisch ausgerichtet sein,
etwa als Neobiedermeier mit der neuen Lust am Backen und Gärtnern
von Mittelschichten, die sich gesellschaftlich entfremdet und bedroht
wähnen. Die Schichten darunter suchen oder finden für dieses Leid
keine adäquaten kulturellen Versöhnungsrituale. Die Feiern am Ersten
Mai bringen kaum mehr jemanden zum Absingen der Internationalen,
die einst stolze Arbeiterkultur liegt in Agonie, der Proletkult ist ver-
gessen. Vielleicht ist das wachsende Desinteresse der Unterprivilegier-
ten an roter Folklore aber auch deshalb so ausgeprägt, weil Retro nicht
von der Aushandlung von widerstreitenden Interessen, sondern von
der Aushandlung von beliebig verfügbaren Stilen handelt, deren Hand-
habbarkeit immer schon eine gewisse Privilegiertheit voraussetzte.
Die sozial hierarchisierende Struktur von Retro äußert sich übrigens
auch in der unterschiedlichen Bewertung von Vergangenheitsbezügen
zwischen der E- und U-Kultur. Eine klassische Theateraufführung gilt
nicht als retro, sondern als werktreu. Das Wagner-Jahr ehrt einen
Künstler, nicht die Sehnsucht nach einer Zeit, in der man noch von
der seligen Überwältigung durch das Gesamtkunstwerk Oper träumte.
Retrobezüge in der Bildenden Kunst heißen Referenzen. Das codierte
Versteckspiel mit dem Erbe des Modernismus gilt als zeitgemäß, wäh-
rend die Vergangenheitsbezüge von Popmusik oder Mobiltelefon-In-
dustriedesign schnell zum Naserümpfen führen.
Freilich gilt: Selbst Retro ist nicht gleich retro. Die rückwärtsgewand-
te Sehnsucht kann nämlich auch auf eine nicht reaktionär gedeutete
Vergangenheit zielen, die man als eine Ära (v)erklärt, die noch Zukunft
hatte. Dieser Strang der utopieverliebten Retromanie sucht nicht – wie
etwa der Schönwetter-Monarchistenkult in England oder die trübtassi-
ge Ostalgie in Deutschland – nach einer Versicherung eines gesellschaft-
lichen Zusammenhalts, den es nicht mehr gibt. Der Sixties-Bezug der
Neohippies und Neofolkies, die Old-School-Passion heutiger Antikom-
merz-Hiphopper oder das ewig dahinköchelnde Revival von Detroit-
Techno sind eher popkulturelle Indizien für den unmöglichen Versuch,
an der Dynamik der Innovation festzuhalten. Einen melancholischen
Zug bekommt diese Referenz auf dem verbleichenden oder schon als
verblichen empfundenen Impuls des Fortschritts in „hauntologischen“,
mit dem Geist aus der Konserve verhexten Popstilen wie „Hypnagogic
Pop“. Der Brite Leyland Kirby montiert etwa nackte Pianomotive zu
ätherischen Soundscapes, grundiert sie mit knacksenden Vinylnadeln
und schwelgt in der Überzeugung „Live for the future, long for the past“.
Aber welche Vergangenheit wird hier begehrt? Vielleicht eine der
Sechzigerjahre. In dieser reanimierte und popularisierte Pop den elitären
Jede Mode aufgesogen wie ein Schwamm: David Bowie beim aktuellen Comeback
Fotos: Floria Sigismondi (2), Frank Ockenfels (rechts unten)
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