Retro
Berlin
tip Campus
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April 2013
selbst schon längst in die Jahre gekommenen SoHo in New York SoPi,
South Pigalle. In den Bäcker-Auslagen sind pizzagroße Brote für den
Preis eines Berliner Mittagsmenüs für zwei zu sehen. Ein nostalgisches
Bild der Vergangenheit ist eben nützlich, wenn man die Gegenwart
auch in Zukunft touristisch ausschlachten will – das wissen auch die
Kopisten in China, die nicht nur altmeisterliche Malerei, sondern auch
ganze Alpendörfer wie Hallstadt als Erlebnispark nachbauen. Michel
Houellebecq äfft in seinem letzten Roman „Karte und Gebiet“ den
Jargon der Imagepfleger nach. Der fiktive Hotelreiseführer French
Touch preist Charming Hotels an, die mit barock verschnörkelten Lo-
gos locken. Der Retro-Reiseführer nennt den Trend zu seelenwärmen-
den Gerichten „nach Großmutters Art“ Vintage-Gastronomie. England,
das Mutterland einer klassenbewussten Nostalgie, erfreut sich nicht
nur am Traumpaar Kate und William und den Hutkreationen von
Queen Mum, sondern auch an der seit 2011 laufenden TV-Serie „Down-
town Abbey“. Darin geht es um geschwächte Lordschaften in gestärk-
ten Hemden vor und im Ersten Weltkrieg und die Sehnsucht nach
einer Zeit, als Butler noch richtige Butler waren.
Die seit 2011 laufende Serie ist nicht nur auf der Insel ein Renner,
sondern wurde auch mit großem Erfolg nach Deutschland verkauft.
Dieses Jahr zeigt das ZDF die zweite Staffel im Vintage-Look. Das
englische Wort Vintage heißt eigentlich Weinlese. Im übertragenen
Sinn steht es für besondere Jahrgänge. Der Blick auf visuelle Reize
vom Make-up über die Vintage-Mode bis zur Tapete wird auch in (im
Unterschied zu „Downtown Abbey“ durch popkulturelle Verweise
punktenden) US-amerikanischen TV-Serien wie „Mad Men“ oder „Pan
Am“ als oberflächenverliebte Verführung zelebriert, der mit anderen
Verführungen wie Drinks, die „Oldfashioned“ heißen, Zigarren in der
Arbeitszeit oder Sex mit der Geliebten in Verbindung steht.
Unser Genuss der Serie, und das unterscheidet „Mad Men“ von
bemühten, halbironischen Nachstellungen eines generationellen
Soundtracks, wie sie etwa auf Eurotrash-80er-Retropartys oder bei
Nineties-Clubbings stattfinden, ist aber kein unschuldiger mehr. Die
Verschiebung der Wahrnehmung, die Differenz in der Wiederholung
ist nämlich schon miteingebaut. In den fetischisierten Objekten steckt
das abgebrühte Handwerk der Bewusstseinsindustrie. Die Kehrseite
des so „herrlich unkorrekten“ Panoramas ist Sexismus, Rassismus,
Doppelmoral und Achtlosigkeit gegenüber der Umwelt.
Als die Familie des „Mad Men“-Chefcharismatikers Don Draper ein-
mal ein Picknick macht, bleibt der ganze Plastikmüll im grünen Wie-
senidyll liegen. Die Kamera schwenkt eine Spur zu lange über den
Dreckhaufen, als ob sie uns komplizenhaft zuzwinkern wollte: Seht
her, wir wissen schon, was ihr damals angerichtet habt. Und wenn der
Werbeguru einmal eine Spur zu lange über seinen Job nachdenkt, dann
kommt er zum Schluss, dass seine Branche Gefühle wie Liebe oder
Begehren nicht nur verkauft, sondern sogar erfindet. So in etwa hat
auch Adorno die Arbeit der Kulturindustrie an der Entfremdung gese-
hen, so in etwa beschreibt auch die israelische Soziologin Eva Illouz
den „Konsum der Romantik“.
Auch im Retro-Möbeldesign geht es oft um Kunststoffe. Rare Vin-
tage-Klassiker wie die Bubble Chairs oder die Eames-Stühle aus Fiber-
glas lassen die Kreditkarten der Designliebhaber glühen; die Nachbau-
ten sind wesentlich billiger und nicht ganz so gefragt. Die modernis-
tischen Originale werden als zeitlos bezeichnet, weshalb sich ein
Berliner Anbieter auch gleich so nennt. Die Eames-Fiberglasmodelle
von 1948 gelten als die ersten in großer Stückzahl produzierten Stüh-
le aus Kunststoff. Wer heute auf dem bunten Plastik sitzt, denkt dabei
aber wohl weder an Billigware für die Massen noch an die Gefahren
eines Plastic Planet.
Retro ist ein Überflussphänomen der Kulturindustrie, das sich von
den medientechnisch aufgerüsteten Speichern und den vernetzten
YouTube-Archiven nährt. Der von der (am 15. April in Berlin gastie-
Filmdivenverschnitt aus Hollywood, Babylon und Barbie: Lana Del Rey
Fotos: Universal Music GmbH (links), Nick Briggs / ZDF
Richtige Butler für geschwächte Lordschaften im gestärkten Hemd: „Downtown Abbey“
»Die rückwärtsgewandte
Sehnsucht zielt auf eine
Vergangenheit, die als
zukunftsreich verklärt wird«
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