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Humboldt
kosmos
101/2013
drauf, dachte, wir müssen die Welt verändern“, erzählt Margraf. Die
Ideen Skinners, die auf den Erkenntnissen der modernen Verhaltens-
psychologie basierten, fesselten den damals 17-Jährigen.
Für ein Psychologiestudium reichten seine Noten allerdings nicht.
„Ich war ein fauler Schüler“, sagt Margraf. Er schrieb sich deswegen
an der Ludwig-Maximilians-Universität München für die Fächer
Soziologie und Völkerkunde ein – und musste schnell feststellen,
dass ihn das seinen Zielen keinen Schritt näherbrachte: „Ich wollte
wissen, wie der Mensch funktioniert, was ihn ausmacht, was ihn
antreibt.“
Margraf ging zurück nach Brüssel, wo es für das Fach Psychologie
keinen Numerus clausus gab. „Das Studium dort war mir aber viel zu
verschult“, sagt er. Er blieb eingeschrieben, jobbte die meiste Zeit in
einemBüro – und war mit seinemLeben unzufrieden. Dann beschloss
er, sich als Quereinsteiger noch einmal für ein Psychologiestudium in
Deutschland zu bewerben. „Ich nahmmir fest vor: Wenn ich das schaffe,
werde ich ein paar Dinge anders machen“, erinnert er sich.
Margraf bekam einen Studienplatz in Kiel, sammelte dort bei Urs
Baumann als Hilfskraft erste Erfahrungen und wechselte vor dem
Diplom nach Tübingen, wo Niels Birbaumer sein Mentor wurde. Mit
dem Diplom in der Tasche ging er gemeinsam mit seiner damaligen
Freundin an die Stanford University. Von dort aus besuchte er schon
als 27-Jähriger überall in den USA Kongresse, auf denen er mit seinen
eigenen Daten die damals gängigen Theorien zur Entstehung einer
Panikattacke widerlegen konnte.
Fernziel Prävention 
Heute genießt Margraf als längst
etablierter und anerkannter Wissenschaftler die Freiheit, die die
Humboldt-Professur ihm gibt: „Durch sie kann ich endlich breit und
langfristig angelegte Forschungsprojekte verwirklichen“, sagt er. „Ich
muss keine Gutachter überzeugen, sondern kann meine Projekte
genau so gestalten, wie ich es für richtig halte.“
Gemeinsam mit seiner Frau hat er in Bochum das Forschungs-
und Behandlungszentrum für psychische Gesundheit aufgebaut, wo
Kinder, Jugendliche und Erwachsene, die unter Panikattacken oder
Phobien leiden, kompetente Hilfe finden. Darüber hinaus laufen an
dem Zentrum verschiedene Studien, die sich mit der Entstehung von
Ängsten befassen.
Margrafs Herzensprojekt aber, das ohne die Humboldt-Mittel ver-
mutlich gar nicht möglich wäre, ist eine Langzeitstudie, die sich mit
der großen, noch ungelösten Frage beschäftigt, wie Menschen psy-
chisch gesund bleiben. „Auf jeden Patienten, der psychotherapeutisch
behandelt wird, kommen zwei, drei gesunde Menschen, die ihr Leben
anscheinend ganz gut auf die Reihe kriegen“, sagt Margraf. „Was
mich interessiert, ist: Wie schaffen die das? Welche Faktoren sind es,
die sie psychisch gesund halten?“ Und da Margraf gern in großem
Maßstab denkt, soll seine Forschung nicht auf Deutschland be­schränkt
bleiben. „Wir werden den gleichen Fragen auch in Ruanda, China,
Russland und den USA nachgehen“, sagt er.
Sein berufliches Lebensziel ist es, eine Basis dafür zu schaffen,
dass seine Kollegen künftig stärker präventiv arbeiten können.
„Meine Hoff­nung ist, dass man eines Tages nicht mehr warten
muss, bis das Kind in den Brunnen gefallen ist, sondern vorher tätig
werden kann“, sagt er.
Um dieses Ziel zu erreichen, nimmt er es hin, dass seine Arbeits-
tage derzeit sehr ausgefüllt sind. Jürgen Margraf reist viel, nicht nur
wegen seiner Forschung, sondern auch in seiner Funktion als Präsi-
dent der Deutschen Gesellschaft für Psychologie, der er seit 2012 vor-
steht. Er hält Vorlesungen und Seminare. „Trotzdem versuche ich, mir
auch Zeit für kreative Dinge, das Denken und Schreiben, zu nehmen“,
sagt er. Rund 400 wissenschaftliche Artikel hat Margraf in seiner
Karriere bereits verfasst.
Und dennoch strahlt der 57-Jährige eine große Ruhe aus. „Ich lebe
das, was ich meinen Patienten beibringe“, sagt er. „Und dazu gehört,
sich Zeit für die Muße zu nehmen.“ In seiner Freizeit liest Margraf
viel, er hört Musik, treibt Sport, werkelt im Garten, kocht gern, am
liebsten zusammen mit seiner Frau, er interessiert sich für Weine und
Archäologie. „Und wir pflegen Freundschaften“, sagt er.
Für sich persönlich strebt Jürgen Margraf nämlich vor allem eins
an: eine gute Balance zwischen seiner Arbeit und den anderen Facetten
des Lebens zu erreichen. „Ich will für meine Freunde immer da sein,
für meine Frau, meine Kinder – und hoffentlich bald auch für meine
Enkel.“ Auf sein Dasein als Großvater freut der Forscher sich schon
jetzt. Auch reisen möchte er mit seiner Familie weiterhin viel. Nur ein
Tauch­urlaub ist nicht mehr geplant: „Wir haben“, sagt er, „stattdessen
das Schnorcheln für uns entdeckt.“
„gar keine angst
zu haben, ist
nicht gesund.“
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