Ihre Ängste zu kontrollieren, hat Margraf schon Hunderten von
Patien­ten beigebracht. Gemeinsam mit seiner Frau, der Kinder- und
Jugendpsychologin Silvia Schneider,mit der er seit 24 Jahren zusammen­
lebt und -arbeitet, entwickel­te Margraf bereits in den 1980er-Jahren
das Marburger Therapiemodell: eine nur 15-stündige Behandlung,
die Menschen von ihren Angststörungen befreit. Die Patienten lernen
dabei nicht nur, sich den angstauslösenden Situationen zu stellen,
sondern sie erfahren auch, wie ein Panikanfall entsteht.
Bekannt geworden ist der
Mecha­nismus, der sich hinter
einer solchen Attacke verbirgt,
als das Margraf’sche Teufels-
kreismodell. Demnach kommt
es, ausgelöst zum Beispiel durch
Stress oder Bewegung, zu körper-
lichen Reak­tionen wie Herzklop-
fen, Atemnot und Ähnlichem.
Während ein gesunder Mensch
all dem nicht viel Beachtung
schenkt, regis­triert ein Angstpa-
tient aufmerksam seine Symp-
tome. Sie ängstigen ihn, wodurch
sein Gehirn vermehrt Stresshormone ausschüttet. Das wiederum ver-
stärkt die körperlichen Reaktionen. Die Panik ist im Anmarsch. „In
dieser Situa­tion glauben die Patienten, auf der Stelle sterben zu müs-
sen“, sagt Margraf. Sie müssen daher lernen, ihre körperlichen Symp­
tome neu zu bewerten.
Die Todesangst, die seine Patienten erleben, ist einer der Gründe,
warum er vor ihnen größte Achtung hat. „Ein Agoraphobiker denkt
ja tatsächlich, dass sein Herz stehen bleibt, wenn er ins Kaufhaus
geht“, sagt Margraf. „Und dennoch ist er bereit, das Risiko auf sich zu
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Humboldt
kosmos
101/2013
Schwerpunkt
Der
Angst­bezwinger
Jürgen Margraf hat eine Therapie gegen Panikattacken entwickelt, die
erstaunlich schnell wirkt. Als Humboldt-Professor an der Ruhr-Universität Bochum
untersucht der Psychologe jetzt, wie Menschen seelisch gesund bleiben.
Text
 anke brodmerkel 
Fotos
 Martin Steffen
Es gibt Momente
, da bekommen es selbst Angstforscher mit
der Angst zu tun. Jürgen Margraf kennt viele solcher Momente. An
einen erinnert er sich besonders gut. „Es war bei meinem ersten
Tauchgang im Meer“, erzählt der Professor für Klinische Psychologie
und Psychotherapie in seinem Büro auf dem Campus der Bochumer
Ruhr-Universität. An der Wand hängen zwei Zeichnungen seiner
Kinder, ein Auto und ein Clown. Ansonsten dominieren Bücher den
Raum. Viele von ihnen hat Margraf selbst geschrieben.
Die Angst griff unter Wasser
nach ihm, während eines Fami­
lienurlaubs in der Türkei. Voll
aus­gestattet mit Neoprenanzug,
Tarierweste, Bleigewichten, Sauer­
stoffflasche, Schnorchel, Brille und
Flossen ließ sich Margraf per
Rückwärtsrolle vom Steg aus ins
Meer gleiten. Er versuchte zu
atmen, doch ihm blieb die Luft
weg. „Ich dachte, der blöde Lun-
genautomat funktioniert nicht“,
erzählt er. Margrafs Herz fing an,
laut und schnell zu pochen. Doch
dann mahnte er sich zur Ruhe. Es gelang ihm, einen tiefen Atemzug
zu nehmen, dann noch einen. „Natürlich“, sagt er, „war mit der Aus-
rüstung alles in Ordnung.“
Es fällt schwer sich vorzustellen, dass diesen Mann auch mal die
Angst packt. Er ist groß, deutlich über 1,90 Meter. Seine Haltung ist
lässig, die Kleidung – Jeans, hellblaues Hemd, darüber ein dezent
kariertes, braunes Jackett – ist es auch. „Gar keine Angst zu haben, ist
nicht gesund“, sagt Margraf. „Erst wenn sie sich nicht mehr kontrol-
lieren lässt, wird sie zur Gefahr.“
„Die Patienten
glauben, auf der
Stelle sterben
zu müssen.“
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